Philosophie aus der Zukunft

Zukunftsdenken – das Nachdenken über die Zukunft in Form von Szenarien, Utopien und Dystopien oder ethischer Fragen – hatte schon mal schlechtere Zeiten erlebt, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Philosophie. Umso mehr lohnt es sich, verschiedene Formen des Zukunftsdenken zu unterscheiden. 

Vorab ist eine Klärung zum Begriff der Zukunft hilfreich. Gemeint sind sowohl die zukünftige Welt einschließlich natürlicher und menschengemachter Veränderungen, aber vor allem auch zukünftige Menschen (oder: Personen allgemein). Unterscheiden sollten wir dabei die eigene Zukunft, die Zukunft unserer Kinder und die ferne Zukunft.

Die eigene Zukunft reicht dabei je nach aktuellem Alter unterschiedlich weit. Wenn wir als Rechengrundlage einmal die derzeitige Lebenserwartung plus Zuschlag nehmen, bietet sich der 100. Geburtstag als Fokalpunkt an.

Die Zukunft unserer Kinder erstreckt sich ebenfalls je nach aktuellem Alter der Kinder, um die es geht – sei es die eigenen oder die Kinder im nahen Umfeld – unterschiedlich weit. Es ist eine Zukunft, in der wir nicht mehr leben, aber noch Menschen leben, die sich an uns unmittelbar erinnern.

Davon unterschieden ist die ferne Zukunft, die dann beginnt, wenn alle, die heute leben, nicht mehr auf der Welt sind. Alternativ und etwas strenger: Wenn niemand mehr lebt, der sich unmittelbar an uns erinnern könnte. Wenn ich von "der Zukunft" spreche, habe ich meistens an diese ferne Zukunft.

Nun aber zu den angekündigten Arten des Zukunftsdenken, insbesondere in der Philosophie!

1) Philosophie über die Zukunft

Im Ansatz einer "Philosophie über die Zukunft" wird die Zukunft zum Gegenstand des Nachdenkens, sei es in der Form von Szenariodenken oder dem ethischen Nachdenken über die Folgen unseres Handelns für die Zukunft. In der Ethik reiht sich das Zukunftsdenken in den Prozess des expanding the circle ein: Zukünftige Menschen werden mit den Kreis der beim ethischen Nachdenken zu berücksichtigenden aufgenommen. Besonders greifbar ist dieser Ansatz in der konsequentialistischen Zukunftsethik wie dem Longtermism à la William MacAskill (2022), aber auch deontologische Ansätze lassen sich so verstehen: Bei Hans Jonas sind nicht nur die jetzt Lebenden ein Zweck an sich, sondern auch die zukünftigen (1979).

Gerade beim ethischen Nachdenken über die Zukunft besteht bei dieser Art des Zukunftsdenken jedoch die Gefahr, zukünftige Menschen bloß als Betroffene unseres Handelns zu begreifen und zu objektifizieren. Krznaric spricht hier sogar von der Gefahr eines temporalen Kolonialismus (2020: 7): Während im historischen Kolonalismus andere Kontinente als terra nullius behandelt werden, obwohl sie sehr wohl von menschlichen Gesellschaften bewohnt sind, wird im temporalen Kolonialismus die Zukunft als tempus nullius behandelt, die wir ebenfalls für unsere Zwecke ausbeuten können. Wenn uns nun unser Gewissen packt, entsteht nur analog zu Kiplings white man's burden eine fossil man's burden

2) Philosophie mit der Zukunft

Der Ansatz einer "Philosophie mit der Zukunft" versucht die Zukunft zu beteiligen in Form von Gedankenexperimenten à la des Schleier des Nichtwissens oder von Rollenspielen, bei denen manche Teilnehmende als Stellvertretung der Zukunft agieren. Der Future Design Ansatz wie von dem Ökonomen Tatsuyoshi Saijo vorgeschlagen und umgesetzt ist ein Beispiel für diese Art des Zukunftsdenken. Die Zukunft kommt hier nicht nur in der Rolle als Betroffene vor, sondern erhalten die Rolle als Mitverhandelnde und als Mitgestaltende. Idealiter werden hier nicht nur Entscheidungen und Handlungen der Gegenwart bewertet, sondern auch der Beitrag der Zukunft thematisiert.

Didaktisch ist diese Art des Zukunftsdenken sehr ansprechend und vielleicht ist sie auch politisch am aussichtsreichsten. Es ist jedoch außerhalb zukunftsethischer Fragen kaum anwendbar und steuert auf der Ebene der normativen Fundierung wenig zusätzlich zur ersten Art des Zukunftsdenken bei. Alles steht und fällt mit einer These über die normativen Ansprüche zukünftiger Menschen. Die Begründungen dürften bei den ersten beiden Arten des Zukunftsdenken ähnlich ausfallen.

3) Philosophie aus der Zukunft

Der Ansatz einer "Philosophie aus der Zukunft" macht die Gegenwart zum Gegenstand des Nachdenkens der Zukunft. Wir fragen uns nicht, wie wir die Zukunft beeinflussen, sondern was die Zukunft über unsere Entscheidungen und Handlungen, aber auch über unser Denken, unsere Selbstrechtfertigungen und unsere philosophischen Positionen denkt. Vorbilder sind hier u.a. Tim Mulgan 2011 und Roger Willemsen 2016. Bei Mulgan lesen wir Vorlesungen aus einem Philosophiekurs in der Zukunft, in dem die Ethik und Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts so thematisiert wird, wie wir Texte der Antike interpretieren. Auf diese Weise werden Grundannahmen hinter unseren philosophischen Problemstellungen aufgedeckt, die wir als vermeintliche Selbstverständlichkeiten gar nicht explizit machen, während sie für die Zukunft rätselhaft sind. Bei Willemsen lesen wir eine philosophisch-essayistische Reflexion darüber, wer wir gewesen sein werden. Auch hier wird der Blick der Zukunft auf unsere Gegenwart eingenommen. (Etwas ausführlicher stellen Martin Weichold und ich diesen Ansatz in einem didaktischen Kontext in unserem Aufsatz von 2024 vor.)

Diese Art des Zukunftsdenkens hat mehrere Stärken: Der Ansatz ist nicht auf die Ethik beschränkt, da es auch auf unsere Positionen zu Welt, Bewusstsein, Sprache, Vernunft, Wissenschaft usw. angewendet werden kann. Der Ansatz ist auch geeignet, neue Einsichten in unsere Problemstellungen, Annahmen und Begründungen beizusteuern; es werden nicht nur bestehende normative Ansätze auf die Zukunft ausgedehnt oder angewendet. Schließlich ergibt sich aus dem Perspektivwechsel auch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit, indem einmal nicht so sehr Argumente und Begründungen im Mittelpunkt stehen, sondern die Überzeugungskraft im spielerischen Ausprobieren eines Dialogs mit einem imaginierten, aber besonderen Adressatenkreis.

Die Handreichung konkret für Autor:innen von Sachbüchern wäre daher: Es lohnt sich beim Schreiben zu fragen, was eine Person, die das Buch in 50, 100 oder 200 Jahren findet und liest, über das Buch denken wird. Wird sie das Anliegen und die Lösungsvorschläge überhaupt verstehen oder wird sie das Buch ernst nehmen und mit Gewinn lesen können?

Alle drei Arten des Zukunftsdenken haben ihre Berechtigung. Da jedoch die dritte Art als Konzept noch wenig etabliert und kaum verstanden ist, liegt mein Hauptaugenmerk darauf. In diesem Blog übernehme ich die Rolle der Person aus der (nahen) Zukunft, die sich fragt, ob sie mit Anliegen, Vorgehen und Vorschlägen dieser Bücher etwas anfangen kann.

Quellen

  • Krznaric, Roman (2020): The Good Ancestor. London: Penguin.
  • Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Kraft, Tim & Weichold, Martin (2024): "Eine Stimme für die Menschen von Morgen", in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 46(4): 39–46.
  • MacAskill, William (2022): What We Owe the Future. London: Oneworld.
  • Mulgan, Tim (2011): Ethics for a Broken World. Montreal: McGill-Queen's UP.
  • Saijo, Tatsuyoshi (2020): Future Design. Singapur: Springer.
  • Willemsen, Roger (2016): Wer wir waren. Eine Zukunftsrede. Frankfurt/M.: Fischer.